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Über Kevin Flynn und seine Arbeit in Italien
Für Künstler jedweder Gattung in Dunkeleuropa war das italienische Sonneneuropa über Jahrhunderte Sehnsuchtsland und Lernort. Dabei ging es nicht einfach um das Abschauen der Kunst, z.B. eines Michelangelos oder Raffaels sondern, wie viele Berichte belegen, um die Inspiration durch das Leben im Lande und die Wirkung des anderen Lichts auf die eigene Kunst.
So waren sehr viele der später berühmten holländischen und flämischen Maler des 17. und 18. Jahrhunderts zu langen Schaffensperioden in Italien.
Heinrich Heine und Johann Wolfgang Goethe haben diese Wanderungsbewegung der geistig hellen Dunkeleuropäer, selbst daran teilnehmend, eingehend beschrieben. Schließlich malte Johann Heinrich Tischbein, mit einem Kasseler Stipendium für 15 Jahre nach Italien gelangt, einen entspannten „Goethe in der Campagna“.
Die britischen Teilnehmer dieser individuellen Wallfahrten sind ebenfalls Legion. Als später berühmte Künstler sind zum Beispiel der Landschaftsmaler Richard Wilson (1714-1782), der ganze 8 Jahre bei Francesco Zuccarelli studierte, oder auch der einflussreichste englische Maler des 18. Jahrhunderts Joshua Reynolds (1723-1792) zu nennen. Ferner ist das Werk William Turners (1775-1851) nicht ohne seine „Belehrung durch Italien“ zu erklären. Italien hat ihn zeitlebens geprägt. Der Lyriker Percy Shelley (1792-1822) (Briefe aus Italien) und seine Frau Mary (1797-1851) (die Erfolgsautorin von Frankenstein(1818)) blieben nach einem ersten Besuch bei Lord Byron in Venedig gleich ganz in Italien und ließen sich in Livorno nieder. Die erfolgreichen englischen Handelsleute Thomas und Daniel Hanbury wiederum kann man als Lebenskünstler bezeichnen, erkannten sie doch mit dem Kauf einer Villa den Genius Loci des Capo Mortola und schufen dort zusammen mit dem deutschen „Pflanzenkünstler“ Ludwig Winter, dem Begründer der Blumenriviera, ein einzigartiges Gesamtkunstwerk, das sich heute anschickt, Weltkulturerbe zu werden.
Womit wir in der Provincia di Imperia wären. 140 Jahre nach Hanbury kaufte dort der englische Künstler Kevin Flynn zusammen mit seiner Frau Kathleen Cross ein kleines Haus mit Cantina, bewusst nicht am Meer als „Riposo per dolce far niente“ sondern mitten im „Hinterland“ von Imperia, mitten im Dorf Borgomaro als „Casa per vivere e lavorare“. Die Cantina wurde der ideale Arbeitsraum.
Wenn es nun um die Arbeiten von Kevin Flynn geht, so ist zunächst bemerkenswert, dass der ausgebildete Künstler Flynn in seiner Heimatstadt Nottingham ausschließlich seinem Brotberuf als Lehrer nachgeht, und seine artistische Profession in England keinen Niederschlag findet. Natürlich sammelt sich das Nachdenken über Kunst in der englischen Zeit zu Kräften, die aber nur am Genius Loci Borgomaro freigesetzt werden. So geschehen in den letzten 10 Jahren vier- bis fünfmal pro Jahr in insgesamt 100 Wochen.
In dieser Zeit suchte Flynn in konzentrischen Erkundungskreisen um seine Cantina in der Erde, am Wegrand, in anderen Cantine, in verlassenen Fienile überall im Dorf nach SEINEM künstlerischen Material: vergessene Artefakte aus Holz, Eisen, Stein und Vielem mehr — DALLA TERRA ALLA LUCE! VON DER ERDE ZUM LICHT!
Eine unvollständige Liste der durch ihn verarbeiteten Objekte und Materialien könnte lauten: Zinkblech, Nägel, Marmor, Gitter, Türen, Fenster, bedrucktes Flachblech, Dosen, Werkzeuge, Holz, Bronze, geformter Gips, Leinen, Erde, Asche, Draht, landwirtschaftliches Gerät aus der Oliven- und Weinproduktion, alte Farbflächen, Papier, Schuhe, Leim usw. All diese Artefakte verwiesen mit ihren Gebrauchs-und Verwitterungsspuren auf die Kultur der Arbeit in Borgomaro. Nach dem Sammeln kam das Ordnen, das Gegeneinanderhalten, das sich unterhalten lassen der Artefakte – erzählt euch eure Geschichte! –, das Arrangieren der Sprachfetzen zu ganzen Sätzen und schließlich das Fixieren in neuem Zusammenhang, der den Betrachter des „alten Zeugs“ in Staunen versetzt. Staunen ist nach Aristoteles das Menschenvermögen, das den Nährboden für Kunst und Wissenschaft bildet. Dabei geht es bei Flynn nicht nur um Adaptionen oder gar Kopien von historischen Vorbildern. Die Gebrauchsspuren werden nicht wegpoliert. Mit britischem Humor entwirft er neue Sinnzusammenhänge, überraschend neue Deutungen von Geschichte, die authentisch wiedererlebt werden kann. Dieser Prozess der Transformation eröffnet den Einwohnern der Gegend die Perspektive für Respekt für historische Spuren und Stolz auf die eigene lokale Geschichte. Tradition und Erneuerung.
Natürlich denkt man bei den Arbeiten des Künstlers zunächst an Arte Povera, etwa eines Mario Merz oder Pistoletto. Aber das trifft es nicht ganz. Während die vor allem norditalienischen Artepovera-Künstler ganz im Stile der gerade 100 Jahre alt gewordenen DADA-Bewegung aus einfachen Materialien Kunst geschaffen haben, um „die Malerei zu ermorden“ (Miró 1927), und den Materialien damit der soziale und kulturelle Kontext genommen wurde, kontexttualisiert Flynn genau die kulturellen und sozialen Inhalte einer Jahrhunderte alten Dorfkultur auf erfreulich unprätentiöse Weise. Natürlich kann man auch an Marcel Duchamp und sein Ready Made denken, doch dessen ebenfalls 100 Jahre alten Performances stellten das Industrieprodukt unbearbeitet aus als Menetekel: Seht das ist Kunst, wozu braucht es dann noch die Malerei?! Marcel Duchamp passt also auch nicht so ganz. Sicherlich kann man auch darüber nachdenken, ob David Nash’s Holzbrandskulpturen, Dieter Roth´s expressionistische Gartenassemblagen oder Günther Uecker´s streng spielerischen Materialarbeiten (Sand, Holz und Nägel) Flynn beeinflusst haben. Daran mag etwas dran sein. Doch wie jeder Künstler sich in der Auseinandersetzung mit anderen Künstlern manches anverwandelt und manches wegverwandelt entsteht Eigenart.
Flynns Eigenart ist die Erkenntnis, dass Kultur immer Arbeit mit Natur ist, mit der Natur der Sachen, der Lebewesen, der Menschen, aber immer Arbeit, also Handeln und Können von Menschen, die Verhältnisse zu wandeln, auch verbunden mit der Empathie für frühere Arbeit. Dies ohne Aufkommen von Nostalgie zu erreichen, ist seine Eigenart.
Um jetzt doch dem Engländer Kevin Flynn einen berühmten Künstler zur Seite zu stellen, nenne ich einen, den Flynn meines Wissens gar nicht näher kennt: den Österreicher Arnulf Rainer. Dieser hat in seinem Lebenswerk die Kunst der Übermalung von Bildern zur Perfektion gebracht. Skulptural hat er hunderte von Holzkreuzen in seiner unverkennbaren Art überformt. So könnte man vielleicht die Eigenart des Kevin von Borgomaro folgendermaßen definieren: Kevin Flynn überformt die Kulturgeschichte der Arbeit eines ligurischen Dorfes.
Zum Abschluss noch einige Worte zur Ausstellung selbst. Es ist ein großes Glück und das Verdienst der Gemeinde und ihres Bürgermeisters, dass die Ausstellung „10 Jahre Kevin Flynn in Borgomaro“ im zentralen, frisch restaurierten Palazzo Doria stattfindet und nicht an einem „neutralem“ Ort. Dieser Palazzo ist keine Prunkvilla sondern in ligurischer Bescheidenheit, ligurischem Stil und ebensolcher Technik vor vielen Jahrhunderten aus örtlichem Gestein errichtet worden wie die Bürgerhäuser auch. In seinen 11 Sälen können Flynns Themenkreise von Feuer/Asche bis Sonne wunderbar inszeniert werden. Man steigt die Stockwerke empor und hat in meinem Lieblingsraum „Il Sole“ einen wunderbaren Blick nach allen Seiten über das umgebende Dorf. Dies ist auch eine Überformung. Die Hülle ist also selbst ein Teil des Grundkonzepts der Ausstellung. Die Bürgerinnen und Bürger Borgomaros können in das ehemalige „Gefängnis“ ihre Fundstücke mitbringen, die der Künstler dann in späteren Jahren „verarbeiten“ wird. Flynn hat bereits angekündigt, der Gemeinde nach dem Ende der Ausstellung einen Teil der Werke zu schenken, so wie dies die Einwohner für richtig halten. Dies alles zusammen genommen könnte man auch sagen: das Leben und Arbeiten des englischen Künstlers im ligurischen Borgomaro, die Ausstellung im Palazzo Doria und die künstlerisch kulturellen Optionen für die Zukunft sind insgesamt eine „Soziale Plastik“ (Joseph Beuys, der auch viel in Italien gearbeitet hat).
Hans-Bernhard Nordhoff in Kooperation mit Heidemarie Vahl

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